Attraktive Wohngebiete

attraktive Wohngebiete

Kolumne im Sensor 6/22

Diese Kolumne soll sich ja mit rechtlichen Fragen befassen. Zum Recht gehört der Ausgleich unterschiedlicher Interessen durch Abwägung – nicht umsonst hält Justitia die Waage in der Hand. 

Wir müssen aber feststellen: Mainz droht mehr und mehr zur Stadt der Unausgewogenheit zu werden. Nach wie vor halten Oberbürgermeister und städtische Haute Volée das spätestens in den sechziger Jahren entstandene Bild einer schoppenseligen „Wir-alle-sind-Mainzer“-Dorfgemeinschaft auf Großstadtniveau hoch und nicht selten enden Ausschusssitzungen unter Leitung der Kulturdezernentin mit der Feststellung: „Sie wollen ja jetzt bestimmt auch alle eine Schoppen trinken gehen“. Dass das Klischee trügt, muss bereits denen klar gewesen sein, die es erstmalig bedient haben. Wer Unterschiede oder gar gesellschaftliche Widersprüche verwischt, hat dazu in aller Regel einen Grund und der liegt allzuoft darin, dass diejenigen, die von Ungleichheit profitieren, nicht diejenigen sind, die für sie bezahlen. 

Politik muss das im Blick haben und Entscheidungen treffen. Das geht nur mit klaren langfristigen Zielen und einer genauen Kenntnis der Umstände im Hier und Jetzt. So, wie man den Blick aufs Navi genauso braucht, wie den Schulterblick. Dass alles ganz schnell gehen kann, zeigen die Entwicklungen rund um Biontech. Auf einmal ist Geld da und ebenso die Notwendigkeit schnell zu reagieren, um den Life-Sciences-Standort Mainz auszubauen. Was wir erleben, ist Überforderung: Natürlich sollte Mainz den entstandenen Vorsprung nutzen und Arbeitsplätze und Steuereinnahmen nach diesseits der Stadtgrenzen ziehen – aber bitte mit Weitsicht. Wenn der Plan aufgeht, kommen viele sehr gut ausgebildete, sehr gut bezahlte Arbeitskräfte nach Mainz. Was das mit Wohnungsmarkt und sozialem Gefüge macht, braucht man nicht im Kaffeesatz zu lesen: Es wird teurer, ärmere Mainzer:innen werden beschleunigt aus attraktiveren Lagen verdrängt. Und attraktiv heisst nicht mit Blick aufs Meer, sondern in zumutbarer Entfernung zu medizinischer Versorgung, Supermarkt und weiterführender Schule. Von Bibliotheken und Schwimmbädern brauchen wir erst gar nicht reden. 

Dass das nicht mehr selbstverständlich ist, ist natürlich nicht nur auf mainzer Mist gewachsen. Aber wir könnten hier etwas dagegegen tun. Zum Beispiel mit der Entwicklung sozial ausgewogener und gleichzeitig attraktiver Wohngebiete. Dazu braucht es weder einen Karstadt II noch Reihenhäuser, sondern ein funktionierendes urbanes Umfeld mit Infrastruktur (autofrei), Aufenthaltsqualität (auch ohne Konsumzwang) und Kultur (systemrelevant, nicht nur in Sonntagsreden). Wir brauchen innerstädtische Mietshäuser, die einfaches und luxuriöses Wohnen unter einem Dach ermöglichen – ja klar: am besten Hochhäuser, am besten aus Holz. (Und was wir mit Sicherheit nicht brauchen, ist eine Internationale Schule, damit die zu erwartenden Highpotentials ihre Kinder ohne Kontakt zum mainzer Pöbel an die Hochschulen schleusen können. Ein Aufschub für die IGS am Europakreisel wäre auch deshalb das falsche Zeichen.) 

Die Mainzer Politik hat massive Probleme, belastbare Entscheidungen zu treffen. Das zeigt die Kehrtwende in Sachen Bauschuttdeponie im Laubenheimer Steinbruch. Man kann in der Sache stehen wie man will: Es ist kein gutes Zeichen, wenn die eine Dezernentin das Projekt mit Verve (und über lange Jahre, mit entsprechenden Kosten) vorantreibt, damit die nächste es keine drei Jahre später beerdigt. Man kann noch nicht einmal Parteiengezänk verantwortlich machen – schließlich sind beides Grüne. Dass dabei Warnungen aus der Fachwelt in den Wind geschlagen werden und die Baukosten steigen, sind weitere Warnsignale.

Die Politik wäre gut geraten, sich langfristig an dem zu orientieren, was allen Mainzer:innen nutzt. Das geht nicht, wenn man Biontech-Dollarzeichen in den Augen hat oder sich nur von Wahlerfolg zu Wahlerfolg zu hangeln versucht – sondern mit einem klaren, gut abgewogenem Konzept. Alles andere wäre nicht nur dumm, sondern auch ungerecht.

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